Der Charakter des Nationalismus

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Nationalismus ist die Suche nach dem kollektiven Ich, die die Suche nach dem individuellen Ich begleitet. Wenn ich wissen möchte, wer ich bin, dann möchte ich irgendwann auch wissen, wer die sind, die zu mir gehören – und somit auch die, die nicht zu mir gehören.

Das könnte ganz natürlich sein – wenn nicht die Idee, dass irgendetwas nicht zu mir gehört, nicht eine Illusion wäre. In Wirklichkeit ist alles mit mir verbunden, und somit sind auch alle Kollektive oder Gruppen miteinander verbunden.

Grenzen zwischen dem Ich und dem Du, dem einen Ich und dem anderen, der einen Nation und der anderen, der einen Gruppe mit der anderen sind verständlich und müssen auch manchmal sein. Unnatürlich aber ist es, zu glauben, dass diese Grenzen natürlich seien. Sie sind eine theoretische Erfindung, um Interessen damit durchzusetzen. In Wirklichkeit existieren sie nicht  – Menschen haben sie erschaffen, und wenn sich alle daran halten, existieren sie dann auch. Wenn sich ganz viele nicht mehr daran halten, können sie nicht mehr existieren.

So ist auch die Zugehörigkeit zu einer Religion, Nation, Familie nur ein Glaube, eine Annahme, eine Behauptung, eine Erfindung. Man gehört immer nur so lange dazu, wie man selbst oder die anderen es glauben, annehmen, leben. Man kann sich auch lossagen und gehört nicht mehr dazu – oder verstoßen werden.

Das letzte, das 20. Jahrhundert nun war die Suche der Menschen nach dem Ich und dem kollektiven Ich und damit verbunden die Entdeckung des Du und des anderen und des kollektiven Anderen, des  Feindes und des kollektiven Feindes, des Nicht-Lebenswerten und des Lebenswerten. Der Mensch machte sich kollektiv zu Gott, indem er Leben auslöschte, welches er als unwert erklärte, Eigentum an sich riss, welches er zu seinem erklärte. Das gab es schon vorher, doch vorher taten es nur einzelne und einzelne Gruppen an einzelnen Orten in einzelnen Zeiten – im 20. Jahrhundert war es ein kollektives, weltumspannendes Phänomen.

Nun könnten wir doch langsam einmal genug davon haben.  Es gibt keine russische Erde, es gibt nur die Erde – und die gehört allen. Es gibt keinen privaten Wald, der Wald ist mit allem verbunden und die Zäune um ihn sind eine Behauptung, die nur so lange gilt, wie die Kultur um sie herum sie trägt. Es gibt kein eigenes Kind, das Kind gehört zu allen und allem, und es ist kein Besitz.

Dies angenommen, könnte man nun damit beginnen, sich frei zu verlieben. Was für ein Aufruhr für viele Kulturen  – aber was für ein Glück für viele Menschen. Und wenn man nur dies weltweit akzeptierte, dass jeder Mensch sich in jeden verlieben darf und wenn beide es wollen, dass dann niemand etwas dagegen machen darf, dann käme so schnell Mitgefühl, Liebe, Toleranz, Akzeptanz und Weisheit so, wie die Menschen es sich eigentlich erträumen. Und die Grenzen wären dann auch immer weniger wichtig. Vielleicht bräuchte man dann schon bald gar keine Charta der Menschenrechte mehr, weil sie von selbst ent- und bestünden.  Vielleicht wäre das die Zeitenwende.

Marion Schneider